Ein Nachruf: Marchfelderhof-Chef Gerhard Bocek

1942–2021

Marchfelderhof-Chef Gerhard Bocek: Kein tumber, promigeiler Dorfwirt

Der Erfinder des Phänomens Marchfelderhof ist tot. Ein Nachruf von Tom Rottenberg / Der Standard:

Über Gerhard Bocek zu witzeln war immer leicht. Und dankbar: Jeder, wirklich jeder, grinste, wenn man seinen Namen nannte. Sogar die, die keine Ahnung hatten, wer Bocek war: Sobald das Wort „Marchfelderhof“ fiel, wusste jeder (und natürlich auch jede) Bescheid. Hatte eine Meinung. Und das, obwohl man („Was glaubst du von mir!“) natürlich selbst nie im Marchfelderhof gewesen war. Weil dort nur die C- oder D-Prominenz verkehrt. Und „Krone“-Kolumnist Richard Nimmerrichter. Leute also, mit denen „unsereiner“ nichts zu tun haben wollte. Die man vom Wegschauen kannte. Aber das dann doch erstaunlich gut.

Ich gebe zu: Ich war nicht anders. Ich spottete und höhnte ausführlich über Bocek, seinen Marchfelderhof, seine Klientel und seine Frisur. Und war insgeheim doch froh, dass alle paar Tage ein Kuvert aus dem Marchfelderhof auf meinem Schreibtisch lag. Drin war nicht, was Sie jetzt vielleicht denken – sondern Fotos. Stinknormale, analoge Farbfotos. Mittelgute Qualität. Drauf waren immer dieselben Leute – wenn auch in unterschiedlichen Konstellationen: die Schillers. Die Lugners. Diverse Missen. Künstler, Musiker und Schauspieler, deren Werk und Wirken nirgendwo rezensiert wurde, deren öffentliches Herumschwirren aber umso bekannter war. Partymädchen. Töchter und Söhne. Die „üblichen Verdächtigen“ der Wiener „Seitenauffüll-Society“.

Fast immer mit auf den Fotos: der Mann, dem die Schreibzunft der Qualitätspresse nicht einmal insgeheim aufgrund seiner Frisur den Spitznamen „Bernhard Paul für Arme“ gegeben hatte – obwohl, oder vielmehr gerade weil, keiner von uns je mit Gerhard Bocek gesprochen hatte.

Wozu auch? Man wusste doch eh auch so alles, was man über den Marchfelderhof wissen wollte. Oder eigentlich nicht wissen wollte: In den Kuverts mit den Fotos, die alle paar Tage ein Lehrbub aus dem Gasthaus am nördlichen Stadtrand persönlich vorbeibrachte, auf den beigelegten Zetteln, stand ja eh alles drin: Man höhnte – aber hin und wieder, wenn es besonders peinlich oder pittoresk war, oder wenn sonst nix „Gesellschaftliches“ zu finden war, verwendete man die Bilder dann doch. Honorarfrei, versteht sich.

Irgendwann war es mir dann aber doch zu blöd, ständig und nur aus der Copy-Paste-Perspektive zu lästern. Ich fuhr hin. Ich glaube, es war ein runder Staberl-Geburtstag: Richard Nimmerrichter, die journalistische Antithese zu so ziemlich allem, wofür die Medien, für die ich schrieb, standen und stehen, wurde von Bocek gefeiert. Mit Gästen, Transparenten, Dragonerempfang, Zigeunerorchester – und den üblichen Gästen. Ein paar Minister kamen auch, katzbuckelten und schleimten – und alle Medien, Freund wie Feind – hatten genau die Geschichte, die sie sich gewünscht hatten.

Am Rand dieses Empfangs wechselte ich mit Bocek ein paar Worte. Die ersten überhaupt. Obwohl ich schon so viele über ihn verloren hatte. Und plötzlich kamen die mir schal und billig vor: Recherche, manchmal ist es ja nur plaudern, kann einem nicht nur die schönsten Geschichte, sondern auch das allerschönste Vorurteil kaputtmachen: Ich wurde neugierig. Auf die Geschichte hinter der Marchfelderhof-Geschichte.

Ein schlauer, reflektierter Kerl

Irgendwann – es war 2008, sagt das Archiv – schrieb ich sie dann auch. Saß mit Bocek ein paar Stunden beisammen. Und staunte: Das da war kein tumber Dorfwirt, der sich halt mit Halbbekannten schmückte, sondern ein schlauer, reflektierter Kerl. Einer, der das „Seitenblicke“-Prinzip durchschaut hatte, bevor es die „Seitenblicke“ und all ihre Folgeformate überhaupt gab. Und der mit einem Mix aus Promibildern und niederschwelliger (aber qualitativ solider) Schnitzelküche das eher mäßig gehende, vom Vater 1969 übernommene Traditionslokal „Bocek“ zur Goldgrube machte.

Boceks Tricks waren so schlicht wie genial: Hatte sein Vater noch geklagt, dass der „Bocek“ 17 Kilometer vom Stadtzentrum weg war, nannte der Sohn das 1843 gegründete Gasthaus nach der Region – und schaltete Inserate: Nur vier Kilometer von der Stadtgrenze entfernt gebe es sensationelle Hausmannskost. Etwa das „Napoleonschnitzel“. Bocek erzählte, dass er selbst staunte, als „eines Tages der Koch anrief – ich war daheim – und sagte, dass da Leute im Lokal sitzen, die ein Napoleonschnitzel wollen. Das sei im ‚Kurier‘ beworben worden.“ Der Koch hatte keine Ahnung, was das sein sollte. Bocek auch nicht. Die Gäste bekamen es trotzdem – und hatten etwas zu erzählen.

Genau das war das Geheimnis des Gerhard Bocek: Im Marchfelderhof gab es immer etwas zu erzählen. 300 Gäste fasste das Riesengasthaus. Da kann es rasch einsam werden. Bocek machte es „kleiner“. Den Marchfelderhof, das Gasthaus, gab es seit Generationen. Es war das erste gemauerte Gebäude in der Gegend. „Dort lagerten die Bauern über Jahre alles, was nicht verbrennen sollte, wenn es denn mal brannte.“

Nach ein paar Jahren wusste längst keiner mehr, wem all die Geräte, Artefakte oder Waffen gehörten. Bocek holte das „alte Graffel“ vom Speicher in den Gastraum: Plötzlich waren da kleine Nischen und Ecken. Man hatte was zum Schauen. Fand immer was anderes. Konnte drüber reden – und hatte Privatsphäre, wurde aber doch gesehen: „Wenn der Kreisky am Nachbartisch saß, merkte das jeder – aber er hatte trotzdem seine Ruhe.“

Kreisky? Ja – und nicht nur der. Boceks Küche stand für das Gegenteil von Haute Cuisine: „Gute, solide, verlässliche Hausmannskost. Ich bewundere jeden, der mit Nouvelle Cuisine Erfolg hat. Ich liebe das – aber 300 Plätze fast jeden Tag im Jahr zu besetzen geht so nicht. Unmöglich, das rechnet sich nicht. Es wäre auch viel zu aufwendig gewesen.“ Was dagegen ging: Schnitzel. Spargelwochen. Hausmannskost. „Viele Leute fürchten sich vor hoher Kochkunst – oder sie wollen nur alle heiligen Zeiten kommen. Und Experimente schmecken oft nicht.“ Beim Bocek war man auf der sicheren Seite – die Überraschungen waren die Gäste: der Kanzler, der Falco, der Lugner. „Die Leute haben eines gespürt: Bei mir werden alle gleich behandelt. Jeder ist ein Promi.“

Auch wenn auf den Fotos, die Bocek dann an die Redaktionen auslieferte, Herr und Frau Maier nicht dabei waren, war es doch der gleiche Fotograf, der auch sie beim Essen ablichtete. War es die gleiche Zigeunermusik und die gleiche Wahrsagerin, die sich zu ihnen gesellte. Kam der Kellner mit dem Holzwägelchen und der Holztorte, aus der ein hübsches (nie zu nacktes) Mädchen pro Abend wieder und wieder strahlend heraussprang – eben zu wirklich jedem Geburtstagskind. Jahre-, jahrzehntelang.

Anfangs, erzählte Gerhard Bocek, habe er seine Bilder ja nur an die „Krone“ geschickt. An den Roman Schließer, den Ur-Adabei. Dann kam der „Kurier“. Dann irgendwann die „Seitenblicke“ – und schließlich explodierte das Society-Ding: Plötzlich hatte jede Zeitung, jeder Sender, jede Radiostation Leute-Rubriken – und die mussten gefüllt werden. Mit Köpfen und Geschichten. Auch wenn die in Wirklichkeit oft keine waren: Gerhard Bocek wusste das sehr gut. B- und C-Promis aßen bei ihm meist „auf Haus“. Weil „wenn die Schiller kommt, kommen heute fünf TV-Kameras und drei Fotografen“. Sicherheitshalber schickte Bocek die Fotos aber auch selbst aus.

Er wusste sehr genau, warum – und nahm Spott und Häme jener, die sich für erhaben und besser hielten, gern in Kauf. Auch weil sich kaum einer der Marchfelderhof-Spötter je auf den Weg in sein Lokal machte. Oder mit ihm darüber sprach.

Ich habe das 2008 getan. Und danach nie wieder hämisch oder abfällig über Bocek oder seinen Marchfelderhof gesprochen.

Gerhard Bocek ist Dienstagfrüh im Alter von 79 Jahren unerwartet und für sein Umfeld überraschend gestorben. Und auch wenn ich Bocek seit 2008 nicht mehr gesehen habe, fühlt sich das nach einem echten Verlust an. Denn Gerhard Bocek hat mir meine eigene Überheblichkeit vor Augen geführt – und dafür bin ich ihm bis heute dankbar.

Quelle:

Tom Rottenberg, Der Standard vom 2.2.2021